Ein Foto, darauf eine Frau, allein mitten im Wald, feminin angezogen und gerade dabei, eines ihrer Kleidungsstücke abzulegen: Was könnte Männerphantasien besser entfachen? Auf einem zweiten Foto, mit einer anderen Frau, langhaarig und im Seidenkleid, sieht man sogar den entblößten Oberschenkel, auf einem wieder anderen Foto einen nackten Bauch. Hier wie auf weiteren Bildern sind die Frauen meist ganz mit sich selbst beschäftigt, nur manchmal scheinen sie sich etwas unsicher zu fühlen und spähen in die Ferne oder suchen Blickkontakt zum Betrachter – Voyeur? – hinter der Kamera.

 

Die aus Erotik und leichtem Gruseln gespeiste Spannung – man denkt bei den Fotos auch an den Film Blair Witch Project (1999) – steht im Gegensatz zum Titel, den Gabriele Obermaier ihrer Serie gab: "Glücklich, wer fern von seinen Stadtgeschäften..." Warum sollten die Frauen glücklich sein? Vielleicht weil sie im Wald allein sein können – und weil sie es genießen, sich hier heimlich umzuziehen und so zu kleiden, als gingen sie ins Theater oder zu einem Fest? Tatsächlich dürfte die fotografierte Situation nicht nur beim (vor allem männlichen) Betrachter etliche Phantasien stimulieren, sondern auch den beteiligten Frauen eine besondere Erfahrung vermittelt haben. Sie konnten sich, befreit von Alltagszwängen, in alternative Rollen träumen, sich – angeregt von der mythischen Macht des Waldes – wie Feen oder Nymphen fühlen oder – auch davon zeugen einige Fotos – einfach einmal ausgelassen tanzen. Und sie durften sich dazu sogar den Wald aussuchen, in dem sie fotografiert werden wollten: Sie sollten – dies der Wunsch der Künstlerin – auf jeden Fall eine emotionale Beziehung zum Ort ihrer Verwandlung haben.

 

Es wäre daher zu kurz gegriffen, in Gabriele Obermaier nur die Fotografin der Serie zu sehen. Vielmehr gehört ihr Projekt in die Tradition partizipativer Kunst, die von Künstlern wie Yoko Ono, Franz Erhard Walther und Erwin Wurm geprägt wurde. In ihr geht es darum, Menschen, die sonst höchstens als passive Rezipienten von den Verfremdungen oder Überhöhungen der Kunst beeindruckt werden, aktiv einzubeziehen: Entweder müssen sie dann Anweisungen befolgen oder sich innerhalb eines definierten Freiraums selbst kreativ betätigen. So veranlaßte Gabriele Obermaier die von ihr ausgesuchten Frauen dazu, jeweils ein Lieblings-Outfit in den Wald mitzunehmen, um es dort vor der Kamera anzuziehen, nachdem sie zuerst ihr anderes Gewand abgelegt hatten. Allein die Konstellation, sich einerseits im etwas unheimlichen, oft düsteren, plötzlich aber auch lichtdurchfluteten Ambiente eines Walds entkleiden zu müssen, andererseits aber etwas tragen zu dürfen, das besonderes Wohlgefühl verspricht, war so ungewöhnlich, daß daraus ein unverwechselbares Erlebnis erwachsen konnte.

 

Nur selten jedoch ist partizipative Kunst fotogen. Oft bleibt die 'Versuchsanordnung', die sich ein Künstler einfallen ließ, nur für die Mitwirkenden interessant. Gabriele Obermaiers Fotos hingegen sind mehr als nur eine Dokumentation von Ausflügen in den Wald. Und sie bieten auch nicht nur Stoff für erotische Männerphantasien. So lassen sie den Betrachter rätseln, was genau auf ihnen gezeigt ist, ja worin die Frauen jeweils befangen sind. In ihnen ist daher der Keim für viele Geschichten enthalten: Man überlegt, was vor oder nach einem Foto geschah. Ob die Frauen in Selbstgespräche verfielen. Ob sie durch den Wald liefen oder eher schlichen. Wie lange sie sich dort aufhielten. Ob sie sich wohl fühlten oder eher ängstlich waren. Ob Kindheitserinnerungen in ihnen lebendig wurden. Und auf welche Bewegungen sie kamen, als sie ein vornehmes Kleid an einem Ort trugen, an dem alle Konventionen der Vornehmheit außer Kraft gesetzt waren.

 

Wolfgang Ullrich