Seit rund einem halben Jahrhundert hat sich das Prinzip der Partizipation in der Kunst etabliert. Das Publikum in die Werkproduktion einzubeziehen, zumindest aber die Rezeption zu einem aktiven Prozess zu machen, in dem sich ein Werk erst vollendet, ist ab den 1960er Jahren vielfach versucht worden. Bei allen Unterschieden zwischen Arbeiten von Yoko Ono, Allan Kaprow und Franz Erhard Walther, die zu den Pionieren partizipativer Kunst gehören, verbindet sie alle der Anspruch, die Teilhabe des Publikums als emanzipatorischen Akt zu realisieren. Es geht darum, die Hierarchie zwischen Künstler und Rezipienten zu überwinden, ja es geht um die Ermächtigung derer, die Kunst bis dahin eingeschüchtert und autoritätshörig auf sich wirken ließen. Bestenfalls folgt die Partizipation dann dem Grundsatz ‚learning by doing’, und durch das Einüben von Handlungsmustern, ja durch die eigene gestalterische Tätigkeit soll sich das Bewusstsein des Publikums sensibilisieren und das Denken verändern: Nur soweit unselbständiges Verhalten zu überwinden ist, kann Freiheit real werden.


Allerdings ist die Aufbruchseuphorie, die partizipative Projekte eine Zeitlang zuverlässig begleitete, in den letzten Jahren vermehrt einer Katerstimmung gewichen. Musste man wiederholt feststellen, dass das Publikum gar nicht so aktiv und emanzipiert sein wollte, wie die Künstler es ihm unterstellten, so erscheint es manchen Kritikern im Gegenteil als Augenwischerei, von Partizipation zu sprechen, während bei nüchterner Betrachtung, so der Vorwurf, doch nur neue Formen von Hierarchie und Exklusion entstehen.


Die wohl schärfste Abrechnung mit dem Partizipativen stammt von dem Architekten und Autor Markus Miessen, der zwischen 2006 und 2016 nicht weniger als eine „Tetralogie der Partizipation“ verfasst hat: vier Bücher, die sich kritisch mit Konzept und Anwendung partizipativer Strategien beschäftigen. Miessen geht von dem Befund aus, dass wir „am Beginn eines partizipativen Zeitalters“ stehen und „der Ruf nach der Teilhabe aller an allen Entscheidungsprozessen“ immer lauter werde; in vielen Bereichen, bei weitem nicht nur in der Kunst, sondern von Protestbewegungen bis hin zu Parteien oder Online-Plattformen werde Partizipation propagiert. Zugleich spricht er davon, dass Partizipation, von ihm kritisch als „Heilslehre“ bezeichnet, „ein reparaturbedürftiges Konzept“ sei. So sei sie „weder ein moralischer Wert an sich, noch liefert sie stets eine Gewinn-Strategie“. Vielmehr sei sie oft ineffizient, schlimmstenfalls führe sie sogar zu Katastrophen, weil die Akteure sich wechselseitig blockierten. Statt der Illusion zu folgen, alle Teilnehmenden seien auf Harmonie eingestimmt, allein weil sie sich in einem gemeinsamen Projekt befinden, solle man daher lieber ein „konfliktorientiertes Verständnis von Partizipation“ entwickeln. Dabei dürfe sie keine „von oben herab genehmigte Öffnung der Entscheidungsprozesse“, also keine hierarchisch-gönnerhafte Praxis sein, sondern müsse jedem individuell „Zutritt zu bestehenden Machtverhältnissen verschaffen“.


Mag in dieser Kritik ein zu romantisch-naives Verständnis von Partizipation durch ein etwas zu martialisches Konzept ersetzt werden, so ist sie angesichts etlicher aktueller Projekte dennoch nachvollziehbar. Man denke etwa an das Nationale Freiheits- und Einheitsdenkmal, das in Berlin in Nähe zum wiedererrichteten Stadtschloss platziert werden soll. Der von der Stuttgarter Event-Agentur Milla & Partner stammende Siegerentwurf heißt „Bürger in Bewegung“, wobei eine große Schale so montiert wird, dass sie sich je nach Anzahl und Verteilung der Besucher, die sie betreten können, in die eine oder die andere Richtung neigt.
Dass auf der Website der Agentur zu lesen ist, das Denkmal „lädt zur Partizipation ein“, mutet einmal mehr gönnerhaft an, und dass es deshalb „ein Bild für gelebte Demokratie“ sein soll, wirkt geradezu frivol, erscheint diese damit doch als etwas, das von oben herab zugelassen wird – und genauso gut auch wieder einkassiert werden könnte.


Bei ihrem Projekt Kugelschwarm vermeidet Gabriele Obermaier eine derartig unaufrichtige und trivialisierte Auffassung von Partizipation. Vielmehr gelingt ihr eine rundum überzeugende und intelligente Spielart. Die Idee, von insgesamt 111 Schülerinnen und Schülern verschiedener Jahrgangsstufen des Münchner Wilhelms-Gymnasiums jeweils eine Kugel formen (und diese dann in Bronze gießen) zu lassen, entfaltet sich in mehreren Stufen zu einem subtilen Ereignis. Denn so simpel die gestellte Aufgabe sein mag und so wenig Spielraum ihre Umsetzung zu erlauben scheint, so viel Stoff zum Denken geben doch die verschiedenen Versionen. Zum einen wird augenfällig, dass es gerade zum Streben nach einer Idealform gehört, diese nicht erreichen zu können. Keine der Kugeln ist wirklich rund, und doch ist bei jeder zu erkennen, dass sie demselben Ideal folgt: Dieses und die Abweichung davon sind gleichermaßen präsent.
In der Differenz zwischen beidem wird zum anderen aber bewusst, dass das Verfehlen des Ideals kein Scheitern bedeutet. Vielmehr wird jede Kugel erst durch die Abweichung vom a priori bekannten Ideal interessant. Diese verdankt sich nicht nur dem Alter der sie jeweils formenden Person, sondern auch deren Erfahrung, Temperament und plastischem Interesse. Sieht man bei manchen das Bemühen, einer idealen Kugel möglichst nahezukommen, so spürt man bei anderen die Lust an einer expressiven, vielleicht sogar leicht subversiven Geste, ja die Neugier darauf, auszuloten, was gerade noch als Kugel durchgeht und doch zugleich eine freie, individuelle Skulptur darstellt.


Nur weil alle dieselbe Aufgabe haben und nur weil diese in lediglich einer einzigen schlichten Anweisung besteht, sind die Differenzen zwischen einzelnen Kugeln so gut miteinander vergleichbar und werden damit umso aussagekräftiger. Partizipation bedeutet hier also nicht, dass der Einzelne in einem Großen und Ganzen aufgeht und sich mit allen anderen identifizieren muss. Vielmehr bleibt Raum für Eigensinn und Selbstbehauptung. Gabriele Obermaier bevormundet nicht und instrumentalisiert die Schülerinnen und Schüler auch nicht für ihr eigenes Projekt, sondern schafft Rahmenbedingungen, innerhalb derer jede und jeder angespornt wird, die gegebene Freiheit auszuschöpfen. Partizipation soll somit, ganz im Sinne der ursprünglich damit verbundenen Ideen, zu gesteigerten emanzipatorischen Energien verhelfen.


Zugleich aber bereitet sie mehr als einen Ort der Selbstverwirklichung. So erleben sich die Schülerinnen und Schüler spätestens im Nachhinein auch als Gemeinschaft – als Teile eines ‚Schwarms’. Dass ihre Kugeln über das Schulgebäude verteilt platziert sind, erlaubt ihnen das Gefühl von Stolz, individuell zu etwas Größerem beigetragen zu haben. Dabei hat Gabriele Obermaier die Kugeln so verteilt, dass sie ihrerseits sowohl als Einzelstücke wie als Elemente eines Gesamtkonzepts zur Geltung kommen. Jede hat einen eigenen Ort; manche stehen für sich, andere in einer markanten Konstellation zu anderen Kugeln, aber in jedem Fall ist jede einzelne klar unterscheidbar von allen anderen – und doch immer auch Teil einer erkennbar das gesamte Schulgebäude einbeziehenden Gestaltung.


Nicht zuletzt trägt dieses Buch dazu bei, sowohl das gesamte Projekt als solches besser sichtbar zu machen und zu dokumentieren, als auch jeden einzelnen Beitrag zum Kugelschwarm zu würdigen. Da die beteiligten Schülerinnen und Schüler eigens genannt und die Orte ihrer Kugeln festgehalten sind, setzt sich Gabriele Obermaier nochmals deutlich von sehr vielen anderen partizipativen Projekten ab, bei denen die Mitwirkenden eine anonyme Verfügungsmasse bleiben oder gar auf Probanden reduziert werden, über die man sich schlimmstenfalls sogar lustig machen kann. Bei Kugelschwarm jedoch bedeutet Partizipation eine Anerkennung jedes Einzelnen. Hier gelingt es tatsächlich, tradierte Hierarchien aufzuheben und ein Vorbild dafür zu liefern, was es heißt, auch als Teil von etwas Übergeordnetem gleichberechtigt und individuell zu sein.

 

Wolfgang Ullrich