Anders, als der Titel es vermuten lassen würde, sind in Gabriele Obermaiers Fotoserie „Tanzstunde“ nicht Debütantinnen und Debütanten die Hauptfiguren, sondern zierliche, schlanke, gewissermaßen jugendliche Bäume. In den jeweils mehrteiligen Fotoreihen der Serie stehen sie im Mittelpunkt. Von einem widerspenstigen Eigenleben überwältigt, scheinen sie nicht vor der Kamera innehalten zu wollen, denn mitten im sonnigen Landschaftsbild hat sie ein wildes Schütteln ergriffen. Das hölzerne Gewächs zeigt sich nur in verwischten Spuren - Schnee wird von den Ästen geschleudert, Blätter oder Tannennadeln zischen durch die Luft. In mysteriöser Dynamik bewegt sich der einzelne Baum im Zentrum der Aufnahme, wo hingegen alle übrigen Bäume auf der Fotografie ruhig in sonniger Stimmung verharren.


Eine reine Naturwiedergabe ohne Interpretation gibt es nicht. In die Vermittlung ihres Bildes schreibt sich immer auch die Absicht seines Urhebers ein. In der Geschichte der Kunst hat die Darstellung von Natur lange eher eine Position im Hintergrund. Erst das moderne Landschaftsbild entledigt sich der mythologischen Staffage, und die Landschaft selbst wird ab dem 17. Jahrhundert zur Attraktion - als pittoreske, unbeherrschbare, romantisch erhabene. In der Moderne wird das Bild von Landschaft vollends zur Folie für ästhetische Experimente – und so wird sie aufgelöst in Punkte und Striche, in geometrisches Raster gefügt oder sonst wie formalisiert. Zudem wird Landschaft, als ins Bild gesetzte Natur gerne überfrachtet mit Ideen. Kein Gräschen bleibt ungeschoren von Bedeutungsspielen. Mehr denn je aber dient das „Landschaftsbild“ immer noch als Bühne für verklärende Spektakel. Es ist erstaunlich, wie nahe sich etwa Olaf Eliassons monumentales Sonnenaufgangsszenario des „The Weather Project (2003/2004, Tate Modern, London) und das fast 140 Jahre ältere, technologisch unterstützte Wintergartenprojekt des Bayerischen Märchenprinzen Ludwig II stehen. Wie Olaf Eliasson, hat bereits Ludwig II Mitte des 19. Jahrhunderts in der Münchner Residenz elektrisches Licht als künstliches Medium zur täuschenden Nachahmung von Naturphänomenen eingesetzt. Von der Gewitteratmosphäre bis hin zur Morgenröte ließen sich alle möglichen Naturstimmungen inszenieren, enstprechend den jeweils aktuellen Wünschen des Bayerischen Märchenkönigs.


Von bestechender Schlichtheit der Mittel ist dagegen die Inszenierung von Gabriele Obermaiers „Tanzstunde“. Es braucht lediglich einen Spaziergang zu einer Lichtung im Wald, eine Kamera mit Stativ und eine zweite Person, die einen jungen Baum an der Spitze fasst, ihn so weit wie möglich zur Seite neigt und ihn dann los lässt. Die Stils, die entstehen, zeigen nun Bäumchen, die in scheinbar wilder Exstase schwingen. Mit minimalen Mitteln gibt Obermeier der Natur ein irritierendes Eigenleben zurück. Das verwischte Bild des abgelichteten Objektes konterkariert das klare Konzept seiner Organisation. Das entstehende Chaos der Wirkung der Aktion liegt außerhalb beherrschender Kontrolle. Die Sachlichkeit und zugleich der Humor der Arbeiten von Obermaier sind dabei von wohltuend abgeklärter Hintergründigkeit.
Der subtile Schweizer Humor von Roman Signer kommt einem in den Sinn, und man erinnert etwa dessen Fotoarbeiten eines Weihnachtsbaumes, der zum Geschoss umfunktioniert, von einer Brücke herab durch die Luft zischt. Oder man denkt an das wunderbare Chaos, mit dem Anna und Bernhard Blume den bleiern wohlgeordneten Kosmos des kleinbürgerlichen Wohnzimmers auf ihren Fotoserien durcheinander wirbelten, als sie das Genre der inszenierten Fotografie in den 70er Jahren neu definierten. In diesen Arbeiten wie in Obermaiers Serie wird dem Zufall, dem nicht Planbaren, Chaotischen, eine Bühne gegeben.


Schon bei der Erfindung der Fotografie bewunderten ihre Betrachter genau jene Aufnahmen am meisten, bei denen das Bild Ungeplantes mit einschloss - wenn die Fotografie etwa die Bewegung der realen Situation scheinbar verschwinden ließ, oder ohne die Absicht des Fotografen Details der Gebärden und Gesten der Abgelichteten sichtbar wurden, ihre Schatten oder ihre Spuren erhalten blieben. Bei der Aufnahme von Bewegung spielt der Zufall Regie und der Künstler gibt die absolute Kontrolle der Komposition auf. Die Verhältnisse geraten in reizvoller Weise durcheinander und eine Dynamik ungeplanter Bedeutungen dringt ins Bild. Das Chaos als das tiefer-Liegende tritt neben das Naheliegenden. Obwohl der Zufall das zeitliche Kontinuum letztlich nicht bricht, sondern in ihm eingebettet ist, hat er gerade deswegen etwas ungeheuer Irritierendes.
Zu guter Letzt, ganz sicher ist man nicht, ob die Bäumchen nicht bereits vorher ein Eigenleben führten. Und man könnte sich durchaus auch vorstellen, dass sie sich nun, nach der Aufnahme, heimlich und nur zum eigenen Vergnügen wild schütteln.


Diana Ebster