Gabriele Obermaiers Arbeit am öffentlichen Raum

 

 Einer weit verbreiteten Vorstellung zufolge ist der öffentliche Raum einfach da – bereit dazu, mit Beliebigem gefüllt zu werden. Als wäre er eine große leere Schachtel oder eine Puppenstube, kann man ihn immer neu ausstaffieren, ihm – unter anderem mit Kunst – eine jeweils andere Gestalt verpassen. Einer anderen Vorstellung zufolge muss der öffentliche Raum hingegen erst eigens geschaffen werden. So hält es etwa der Soziologe Oliver Marchart für eine „naive Fiktion“, den öffentlichen Raum – und Öffentlichkeit insgesamt – als von vornherein vorhanden anzunehmen. Vielmehr geschehe „diese Herstellung von Öffentlichkeit im Moment konfliktueller Auseinandersetzung“. Und weiter: „Wo Konflikt, oder genauer: Antagonismus ist, dort ist Öffentlichkeit, und wo er verschwindet, verschwindet Öffentlichkeit.“


Öffentlicher Raum ist gemäß diesem Verständnis also nicht Arena und Voraussetzung für eine Streitkultur, ja liefert nicht die Rahmenbedingungen für Debatten, sondern entsteht erst als Ausdruck und Folge von Konflikten: Ohne Streit gibt es gar keinen öffentlichen Raum. Kunst im öffentlichen Raum ist demnach gerade keine nachträgliche Ausstattung freier Flächen, sondern ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, Streit zu ermöglichen. Sie muss den Raum, für den sie geschaffen ist, durch Kontroversen, die sie auslöst, erst eigens erzeugen.


Allerdings sind auch an dieser Vorstellung Zweifel angebracht, und man kann fragen, ob Streit und Antagonismus hier nicht idealisiert werden. Sollte es wirklich ein gesellschaftliches Ziel sein, so viel Dissens wie möglich zu erzeugen? Muss Kunst zwangsläufig auf Widerspruch und Provokation angelegt sein, nur damit sich der öffentliche Raum echt und lebhaft spüren lässt – damit er überhaupt existiert?


Gabriele Obermaier manifestiert mit ihrer Arbeit als Künstlerin ein drittes Verständnis von öffentlichem Raum. Auch für sie ist klar, dass der öffentliche Raum nicht einfach gegeben ist, sondern dass er immer neu verteidigt und offen gehalten werden muss. Aber statt pauschal auf Streit zu setzen, in dem jeweils unvereinbare Positionen aufeinandertreffen, geht es ihr darum, überhaupt erst einmal ein Bewusstsein für die Verschiedenheit dieser Positionen zu wecken. Der öffentliche Raum wird nach ihrer Überzeugung umso offener und umso wertvoller, je besser in ihm Unterschiedliches als solches anerkannt und dann wechselseitig zur Geltung kommen kann. Während ein Streit fast zwangsläufig dazu führt, dass unterliegende Positionen verdrängt oder zumindest abgewertet werden, im öffentlichen Raum dann also Hierarchisierungen und Exklusionen stattfinden, sieht Obermaier seine Aufgabe und Eigenheit darin, Pluralismus, ja echte Vielfalt zu ermöglichen.
Anders als für viele andere Künstler*innen ist es für sie daher auch keineswegs ein lästiges Übel, an Ausschreibungen und Wettbewerben für Kunst am Bau oder Kunst im öffentlichen Raum teilzunehmen. Immerhin lässt sich dann im Auftrag der öffentlichen Hand, also demokratisch legitimiert, darauf hinwirken, dass die Qualität des öffentlichen Raums steigt, was wiederum zu einer Stärkung des demokratischen Bewusstseins führt, was im weiteren zusätzliche Projekte für noch mehr, noch besseren öffentlichen Raum ermöglicht.


Gabriele Obermaiers Arbeiten für den öffentlichen Raum verfolgen daher auch immer den demokratiestärkenden Anspruch, die Menschen sensibler für Differenzen zu machen und ihnen dabei zu helfen, mehr Empathie für diejenigen zu entwickeln, die anders denken, andere Erfahrungen gemacht haben oder anders sind, weil sie einer Minderheit angehören und daher kaum sichtbar sind. Viele von Obermaiers Arbeiten für den öffentlichen Raum haben sogar schon Titel, die zu mehr Feinfühligkeit im Umgang miteinander aufrufen: „Weiches Haus“ (dies eine 2009 für das Bundessozialgericht in Kassel geschaffene Skulptur) oder „Kleine Wolke“ bringen die Rezipient*innen darauf, behutsamer, vorsichtiger auf ihre Umwelt zu reagieren als sonst. Und eine Ausstellung mehrerer ihrer Raumarbeiten nannte Obermaier 2021 „Sanfte Störung“, machte es also zum Programm, dass das Publikum sorgfältig gerade auf kleine Abweichungen und Irritationen achtet, denen üblicherweise keine eigene Aufmerksamkeit geschenkt wird.


Eine ‚sanfte Störung’ bestand etwa darin, dass man als Passant*in nicht ohne weiteres durch das Fenster in die Ausstellung blicken konnte, da es bis zur Augenhöhe verschmiert war, als sei es lange nicht gereinigt oder absichtlich undurchsichtig gemacht worden. Wer dennoch oder gerade deshalb mehr sehen wollte und sich mit dem Gesicht an die Scheibe drückte, geriet in die Rolle eines Voyeurs, musste sich also übergriffig fühlen. Und wer sich entschied, die Ausstellung zu betreten, hatte zuerst durch einen Vorhang aus Schnüren zu gehen, fühlte sich also wiederum als Eindringling, der mit gewissem Mutwillen eine Schwelle überschreitet. Aus solchen von Obermaier in Szene gesetzten Momenten kann (und soll) eine stärkere Körperwahrnehmung erwachsen, was wiederum dazu führt, dass man die eigene Stellung im Raum vergegenwärtigt und besser begreift, dass und wie man Raum beansprucht, um sich daraufhin – hoffentlich – mit etwas mehr Rücksicht zu bewegen.


Dieselben Anliegen verfolgt Gabriele Obermaier auch als Mitglied der seit 1995 bestehenden Künstlergruppe „Department für öffentliche Erscheinungen“. In zahlreichen Aktionen und Projekten hat diese Gruppe die sozialen Dimensionen des öffentlichen Raums verhandelt und immer wieder erhellt, was es heißt, in Städten und auf Plätzen, in Wohnumgebungen und auf Straßen zu einem halbwegs harmonischen Zusammenleben beizutragen. Oft setzt die Künstlergruppe dabei Humor ein, greift also etwa Spielarten von Bürokratie auf, um vorzuführen, wie stark der Umgang zwischen den Menschen eigens reglementiert wird, weil es ihnen sonst nicht gelingt, sich ohne erhebliche wechselseitige Störungen zu begegnen. Genauso ist es aber ein Thema des „Department für öffentliche Erscheinungen“, die Menschen in der Vielfalt ihrer Meinungen und Lebensweisen sichtbarer zu machen. So wird umso deutlicher, dass der öffentliche Raum tatsächlich eine höchst pluralistische Angelegenheit darstellt – und dass ein friedliches Neben- und Miteinander alles andere als selbstverständlich ist.


Gabriele Obermaiers künstlerische Haltung könnte man zusammenfassend mit einem Gedanken Friedrich Schillers paraphrasieren, der in seinem berühmten Kallias-Brief vom 23. Februar 1793 davon spricht, für ein humanes Zusammenleben bedürfe es einer „Schönheit des Umgangs“, eines „guten Tons“ zwischen den Menschen. Und dann schreibt er: „Das erste Gesetz des guten Tones ist: Schone fremde Freiheit. Das zweite: Zeige selbst Freiheit. Die pünktliche Erfüllung beider ist ein unendlich schweres Problem...“ An diesem Problem zu arbeiten, ist also eine enorm anspruchsvolle, nie endende Aufgabe, bedeutet aber vor allem auch, sich einer großen Idee von öffentlichem Raum zu verpflichten.

 

Wolfgang Ullrich

 

 

 

1 Oliver Marchart: “’There is a crack in everything...’. Public Art als politische Praxis“, in: Christoph Schenker/ Michael Hiltbrunner (Hgg.): Kunst und Öffentlichkeit. Kritische Praxis der Kunst im Stadtraum Zürich, Zürich 2007, S. 235–244, hier S. 239.

2 Friedrich Schiller: Kallias oder über die Schönheit, Stuttgart 1971, S. 52f.